Was sind eigentlich Mütterzentren?
Der Name ist ein bisschen verwirrend und sicher auch nicht mehr ganz zeitgemäß.
Mütterzentren sind heute vielmehr offene Häuser für Jung & Alt – für Mütter, Väter und Kinder aber auch für Frauen und Männer ohne Kinder, für Senioren, für Menschen mit Behinderung, für Menschen verschiedener Nationalitäten und Glaubensrichtungen.
Mütterzentren sind eine zeitgemäße Form der Nachbarschaftshilfe, in denen sich Menschen aller Altersstufen über ihre Erfahrungen im Zusammenleben mit Kindern und Familie auf gleichberechtigter Ebene austauschen können.
Moderne Dorfbrunnen im Quartier
Ganz im Sinne des afrikanischen Sprichwortes - „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“ - arbeiten die großen und kleinen Zentren nach dem Prinzip der Großfamilie und bieten Gelegenheit für Begegnung und Austausch, für Beratung, Betreuung und Bildung im Stadtteil.
Die Bewältigung des Alltags bedeutet heute für eine Vielzahl von Familien eine hohe Belastung. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Flexibilisierung und die Anforderungen an Mobilität in der Arbeitswelt sind unter anderen wichtige Faktoren, die das gesellschaftliche Zusammenleben einem deutlichen Wandel unterworfen haben. Heute leben die meisten Menschen, vor allem in großen Städten, nicht mehr in Familien mit mehreren Generationen unter einem Dach. Erfahrungen und Alltagswissen der älteren Generationen werden nicht mehr direkt an die nachfolgenden Generationen weitergegeben und vermittelt und junge Familien erleben durch eine Informationsfülle einerseits und einem Defizit an Erfahrungswissen andererseits, eine große Verunsicherung in Fragen der Kindererziehung. Durch räumliche Isolation und persönliche Vereinzelung findet spontane Hilfe und Unterstützung sowohl der Generationen untereinander als auch in der Nachbarschaft kaum noch statt.
Mütterzentren mit ihren offenen Treffpunkten sind Anlaufstellen für Menschen aus dem Quartier, mit unterschiedlichsten Bedürfnissen, Interessen und Kompetenzen. Sie verbinden Menschen, die sich sonst so vermutlich nie begegnet wären. Sie lassen Gemeinschaft entstehen, wo Lebensstile und Lebenssituationen auseinander gehen.
Von Familien für Familien
In Mütterzentren als Einrichtungen der Familienselbsthilfe wird täglich selbstorganisierte, gegenseitige Unterstützung geleistet. Die Zentren bieten mit ihrem Arbeitskonzept des offenen, durchgehenden Angebots in eigenen Räumen, des Laien mit Laien-Prinzips sowie der Integration von Kindern eine offene und niedrigschwellige Struktur. Das soziale Leben in Zentren macht das Überschreiten von Grenzen zwischen Berufsarbeit und Familienarbeit, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Jung und Alt möglich. Die Vielfalt der Angebote orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen vor Ort und wird von den Familien selbstbestimmt entwickelt. So entsteht landesweit ein buntes Bild von familienunterstützenden, familienentlastenden und familienergänzenden Angeboten.
Herzstück eines jeden Zentrums – das Café
Das Herz eines jeden Mütterzentrums ist das offene Café, um das sich ein breit gefächertes Angebot an familienentlastenden Dienstleistungen, Nachbarschaftshilfen und Beratungen rankt. Die Aktivitäten orientieren sich an den individuellen Bedürfnissen und den jeweiligen kommunalen Gegebenheiten und bieten konkrete und kreative Antworten auf lokale Angebotslücken.
Café ist Methode
Das Familiencafé ist offener Treff und bietet einen niederschwelligen Zugang zu einer zentralen Anlaufstelle in der Kommune. Hier gilt es, Gelegenheitsstrukturen für Begegnung zu schaffen, Beziehungen zu knüpfen und Kontakt- und Informationsdrehscheibe für alle Besucher zu sein.
Im Café geht es nicht nur um ein gastronomisches Angebot, es ist vielmehr die Methode für Kontakt und Begegnung, zur Vermittlung von Werten und Leitbildern, nach dem Motto „Vormachen, Mitmachen, Selbermachen“. Durch das breit gefächerte, bedarfsorientierte Angebot kommen Menschen aller Altersgruppen, mit unterschiedlichen Charakteren und Erziehungsstilen, Lebenserfahrungen und Bildungshintergründen, kulturellen und sozialen Bedarfslagen sprichwörtlich „an einen Tisch“. Eine Gleichzeitigkeit von Leben und Lernen findet statt, eine Wissensvermittlung auf alltagspraktischer Ebene.
Cafés gibt es viele – was ist das Besondere? Café mit Gastgeberin!
Der ganzheitliche Ansatz (Leib und Seele zusammenhalten) und das „sich umeinander kümmern“ lässt Menschen gerne in das Zentrum kommen, schafft Vertrauen und bildet die Basis für Selbsthilfe, Netzwerkbildung und bürgerschaftliches Engagement.
Vor allem die Mitarbeitenden im Zentrum, die sogenannten Gastgeberinnen und Gastgeber, müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Menschen sich in erster Linie wohl und willkommen fühlen müssen, damit sie Hilfe und Unterstützung annehmen können und sich im Idealfall vielleicht sogar im Zentrum engagieren. Wichtig ist die Atmosphäre, in der sich eine Willkommenskultur mit Gelegenheitsstrukturen für vielfältige Begegnungen und Aktivitäten entwickeln kann.
Ist dies gelungen, ergibt sich der Rest wie von selbst. Menschen kommen regelmäßig, halten sich gerne im Zentrum auf, tauschen sich aus, knüpfen Kontakte zu anderen Besuchern und bringen im Idealfall sich und ihre Fähigkeiten durch Mitarbeit im Zentrum ein.
Qualifizierte Gastgeberinnen und Gastgeber
Damit das Konzept des offenen Treffs gelingt, bedarf es verantwortlicher und qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren wesentliche Fähigkeit eine hohe soziale Kompetenz sein muss – die sogenannten Gastgeberinnen und Gastgeber im Café. Sie schaffen die Atmosphäre, in der sich eine Willkommenskultur mit Gelegenheitsstrukturen für vielfältige Begegnungen und Aktivitäten entwickeln kann. Sie sind die ersten Ansprechpersonen für die Besucher. Ihre Aufgaben bestehen aber auch darin, neuen Besuchern das Einleben zu erleichtern und ihren Weg zu begleiten. Für junge Familien und diejenigen die neu im Stadtteil sind, können sie eine Orientierungshilfe sein. Als eine Art „Coach“ im Sozialraum geben sie wichtige Tipps, einen Überblick über vorhandene Angebote und stellen ggf. Kontakt zu anderen Einrichtungen und Trägern her. Als Praxisexperten halten sie das Prinzip „Offener Bereich“, lebendig und entwickeln es weiter.
Entstehung des Konzeptes
Entwickelt wurde das Konzept „Mütterzentrum“ in den 80er Jahren durch das Deutsche Jugendinstitut.
Vorausgegangen war der konzeptionellen Entwicklung eine Studie des DJI, die Ende der 70er Jahre durchgeführt wurde. Diese Studie bezog sich einerseits auf eine Analyse der Situation von Menschen, die Kinder erziehen – das waren damals in der Regel die Mütter - und andererseits auf eine Analyse der vorhandenen institutionellen Elternarbeit. Das DJI untersuchte in seiner Studie 144 Modelle der Elternarbeit, um herauszufinden, inwieweit sie auf die Situation von Müttern eingehen. Die Institutionen selber klagten damals über Zugangsprobleme, geringe Besucherfrequenzen, Probleme der Kontinuität und schichtenspezifische Inanspruchnahme der Angebote. Befragungen ergaben, dass viele Familien mit geringem Einkommen trotz Überforderung im Alltag die gängigen Angebote der Familienbildung nicht in Anspruch nahmen, weil sie sich als „Problemfälle“ stigmatisiert fühlten.
Terminierte Beratungszeiten, ungewohnte Büroatmosphäre, Öffnungszeiten, die nicht dem Familienrhythmus entsprechen waren Stichworte, die die Zugangsschwellen sehr hoch setzten. Außerdem erschwerte der Oben-Unten-Blickwinkel von Profi zu Klient die Wahrnehmung der positiven eigenen elterlichen Fähigkeiten.
Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wurden Zentren entwickelt, die im Rahmen der Familienselbsthilfe selbstbestimmt organisiert wurden und in denen nicht die Defizite, sondern die Fähigkeiten und Erfahrungen der Besucher im Vordergrund stehen sollten.
Das Konzept „Mütterzentrum“ hatte eine Verbesserung der Lebenssituation von Müttern (als diejenigen, die in der Hauptsache für die Erziehungsarbeit verantwortlich waren) zum Ziel. Im Mütterzentrum sollte die Öffentlichkeit auch außerhalb der Berufssphäre wiederhergestellt werden, indem sich Frauen Raum für Zwischenstufen schafften. Das Mütterzentrum sollte Anlaufstelle für Frauen und Kinder aller Altersstufen sein und Möglichkeit zu Kontakt und Austausch im nachbarschaftlichen Umfeld bieten. Die Besucherinnen sollten im Zentrum ermutigtet werden, Erfahrungen auszutauschen, Beratung in Anspruch zu nehmen, aber auch selbst Dienstleistungen anzubieten und z.B. flexible Kinderbetreuung zu organisieren und sich füreinander und für das Haus zu engagieren.
Seit Jahrzehnten erfolgreich und aktueller denn je!
Die ersten Mütterzentren wurden 1981 in München – Neuaubing, in Salzgitter – Bad und in Darmstadt gegründet und ihre Zahl ist bundesweit mittlerweile auf 400 angestiegen. Viele Zentren haben sich von kleinen Treffpunkten zu großen Begegnungsstätten entwickelt, die Funktionen von sozialen Dienstleistungsagenturen, Fortbildungsträgern und Anbietern von vielfältigen Leistungen für die Bedürfnisse aller Generationen übernehmen.
Aber völlig gleich, ob kleiner Treffpunkt oder großes Haus, alle Zentren arbeiten noch immer nach dem gleichen Konzept und der gleichen Idee.
Gemeinsames Ziel ist auch heute noch die Vereinbarkeit von Beruf und Familienangelegenheiten, die Motivation zu gegenseitiger Hilfe und - ganz im Sinne der Inklusion - die Beteiligung aller am gesellschaftlichen Leben. Auch wenn es heute nicht mehr vorrangig um Mütter geht, so sind die Idee und das Konzept von 1981 aktueller denn je.
Auch die Ergebnisse der DJI Studie aus den 70ger Jahren ähneln gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen von heute. Immer noch fühlen sich Familien oftmals stigmatisiert und in ihrer Rolle als Eltern bzw. Experten für ihr Kind nicht ernstgenommen. Aktuelle empirische Studien belegen die heterogene Nachfrage und Nutzung von Elternbildungsangeboten. Gerade Familien in besonders belasteten oder prekären Lebenslagen werden oftmals nicht erreicht.
In seinem Maßnahmenteil macht der Armuts- und Reichtumsbericht deutlich, dass allein eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation (= direkte Leistungen) nicht ausreichend ist: Es kommt vielmehr darauf an, den Eltern durch eine Verbesserung der Infrastruktur die Erwerbschancen zu erhöhen (z.B. durch Kinderbetreuung), sie durch wirtschaftliche Bildung und Beratung, durch die Förderung von örtlichen und regionalen Netzwerken oder gezielte Fördermaßnahmen in sozialen Brennpunkten zur Armutsprophylaxe ebenso zu unterstützen sowie zur Selbsthilfe und Eigenbewältigung von Armut zu befähigen (vgl. Bertsch 2004).
Es geht also nicht nur darum, benachteiligte Familien finanziell zu unterstützen als vielmehr auch darum, sie darin zu bestärken, eigene Kräfte zu entwickeln und Probleme zu bewältigen. Nicht Abhängigkeit, sondern Eigenverantwortlichkeit und soziale Verantwortung sind das auch vom geltenden Kinder- und Jugendrecht getragene Ziel. Mit diesem Verständnis staatlicher Förderungspolitik stellt nicht die Familienhilfe, sondern die Familienselbsthilfe den Schwerpunkt dar.
Weiterhin ist im 7. Familienbericht zu lesen, dass Familien dann ihre „Leistungen“ (Schaffung von Humanvermögen, Bereitstellung von „care“) besser erbringen können, wenn sie in soziale Netzwerke eingebettet sind.
Familienbildung / Familienselbsthilfe / Netzwerk
Mütterzentren und offene Häuser für Jung & Alt bieten einen niederschwelligen Zugang zur Familienbildung, ermöglichen Partizipation u.a. durch die Möglichkeit zur Mitarbeit (Eltern für Eltern) und die wertschätzende Haltung im Haus (Philosophie / ganzheitlicher Ansatz) und sind stets eingebettet in ihr lokales Netzwerk.
Bei derartigen gesellschaftspolitischen Befunden und den immer gleichen Fragen nach der Gestaltung der Zugänge in der Eltern- und Familienbildung sowie nach Gestaltungsmomenten, die den Zugang zu Bildungsangeboten erleichtern, ist es mehr als verwunderlich, dass das Konzept „Mütterzentrum“ politisch in NRW bislang noch keinen Durchbruch erlebt hat.
Organisation / Vernetzung
Die Zahl der Mütterzentren ist seit der Entwicklung in den 80er Jahren bundesweit auf mittlerweile 400 angestiegen.
International sind die Mütterzentren in 22 Ländern vertreten und im Mother Centers International Network for Empowerment, MINE organisiert.
Für ihren Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung von sozialen Netzwerken und zum sozialen Zusammenhalt in Nachbarschaften erhielten die deutschen Mütterzentren im Jahr 1998 mit dem Gütesiegel "Best Practice" der Vereinten Nationen auch eine internationale Anerkennung.
Das UN Gütesiegel wird weltweit einhundertmal vergeben und soll auf Projekte aufmerksam machen, die Vorbildcharakter für die Verbesserung der Lebensqualität in Städten und ländlichen Gemeinden haben.
In NRW gibt es Mütterzentren seit 1989 und obwohl in der Vergangenheit das ein oder andere Zentrum aufgrund von mangelnder finanzieller Unterstützung aufgeben musste, gibt es immer wieder neue Initiativen von Müttern und Vätern, die von der Idee begeistert sind und sich auf den Weg machen, neue Zentren zu gründen.
Unterstützt werden die bestehenden und neuen Zentren dabei durch den Landesverband der Mütterzentren in NRW.
Zukunft der Zentren
Da das Konzept und die Grundidee der Mütterzentren nachweislich in den letzten 30 Jahren nichts an Aktualität verloren haben, ist es wohl hauptsächlich die Bezeichnung „Mütterzentrum“, die heute nicht mehr zeitgemäß zu seien scheint.
Mütterzentren und offene Häuser für Jung & Alt sind selbstorganisierte Sozialräume, moderne Dorfbrunnen, in einer Gesellschaft, in der Nachbarschaft, Freundschaften und ein soziales Netzwerk außerhalb von verwandtschaftlichen Beziehungen gerade für junge Familien immer wichtiger werden.
Mütterzentren und offene Häuser für Jung und Alt funktionieren nach dem System Großfamilie und arbeiten nach dem Motto „Jeder hilft jedem“ und „gemeinsam können wir das, was wir brauchen“. So entstehen bunte und lebendige Zentren, die kreativ und unbürokratisch Hilfe, Unterstützung und Begleitung für Familien im Sozialraum bieten.
Die Mütterzentren in Nordrhein-Westfalen aktivieren nachhaltig bürgerschaftliches Engagement im sozialen Nahraum, sind für alle Besucher offen, verstehen sich inklusiv, bündeln Erfahrungswissen der Generationen und ermöglichen gegenseitige Unterstützung.
Aktuelle Situation
Gegenwärtig erlebt Deutschland eine Migrationswelle mit besonderem Ausmaß. Dies stellt Bund, Länder und die Kommunen vor große Herausforderungen. Etwa ein Fünftel aller Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, werden in NRW aufgenommen. NRW liegt damit bundesweit an der Spitze, gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg.
Neben den gegenwärtigen aktuellen Problemen der ersten Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge stellt sich bereits jetzt die Frage, wie diese vielen Menschen, darunter auch viele Familien, langfristig und bestmöglich in die Gesellschaft und Nachbarschaft unserer Städten und Gemeinden integriert werden können.
Erste Hilfe wird hier vor allem von ehrenamtlich organisierten Gruppen, Vereinen und freien und kirchlichen Trägern geleistet. Langfristig braucht es aber auch Konzepte aus der Familienselbsthilfe, wie die Mütter, Väter und Kinder in bestehende soziale Netzwerke der Familien vor Ort eingebunden und niederschwellig Hilfe und Unterstützung durch Familien und die Nachbarschaft organisiert werden können. Neben der Hilfe von Familien vor Ort geht es auch um die Hilfe der betroffenen Familien untereinander. Die Partizipation der betroffenen Flüchtlingsfamilien, ihre Mitarbeit, ihr Wissen und ihre Erfahrung als Experten ihrer eigenen Lebenssituation spielen dabei eine zentrale Rolle. Genau hier wird die Arbeit der Mütterzentren und offenen Häuser für Jung & Alt in NRW als örtliche niederschwellige Anlaufstelle für Familien aktueller denn je und sogar der umstrittene Name „Mütterzentrum“ bekommt angesichts der vielfältigen Probleme der geflüchteten Mütter zukünftig vielleicht wieder eine ganz andere Bedeutung.